Doch was ist Mythos, was ist Wirklichkeit?
Trotz beeindruckender Fortschritte gibt es viele Missverständnisse rund um KI. Dieser Blogartikel nimmt einige der häufigsten Mythen unter die Lupe und ergänzt sie mit relevanten Kontexten und Daten:
Mythos 1: KI wurde vor ein paar Jahren erfunden
Wenn wir heute von KI sprechen, denken viele an Chatbots, Bilder generierende Modelle oder autonome Fahrzeuge. Doch KI begleitet uns schon seit Jahrzehnten – oft ohne, dass wir es bewusst wahrnehmen. Hier sind drei konkrete Anwendungen, die bereits seit langer Zeit existieren und auf künstlicher Intelligenz basieren:
- Schachcomputer (seit den 1950ern): Schon in den 1950er Jahren begannen Wissenschaftler*innen, Maschinen beizubringen, Schach zu spielen. Ein Meilenstein war 1997, als IBM’s Deep Blue den damaligen Schachweltmeister Garry Kasparov besiegte. Deep Blue nutzte eine Form der künstlichen Intelligenz, die mithilfe von Entscheidungsbäumen Millionen von Zügen berechnete – ein früher Vorläufer heutiger KI-Systeme.
- Spam-Filter (seit den 2000ern): Wer erinnert sich noch an die Zeit, in der der Posteingang von Spam überflutet wurde? Seit den frühen 2000ern setzen E-Mail-Dienste vermehrt KI ein, um unerwünschte Nachrichten automatisch auszusortieren. Diese Systeme lernen anhand von Milliarden von E-Mails, welche Muster auf Spam hinweisen – von bestimmten Wörtern über verdächtige Absender bis hin zu ungewöhnlichen Links.
- Empfehlungssysteme (seit den 2010ern): Ob Netflix, Spotify oder Amazon – fast jeder Onlinedienst nutzt künstliche Intelligenz, um uns personalisierte Empfehlungen zu geben. Diese Systeme analysieren unser Verhalten, vergleichen es mit Millionen anderer Nutzer*innen und schlagen uns Inhalte vor, die uns interessieren könnten. Auch wenn das erst in den letzten Jahren richtig sichtbar wurde, stecken dahinter jahrzehntelange Entwicklungen in den Bereichen maschinelles Lernen und Big Data.
Mythos 2: KI denkt wie ein Mensch
Viele glauben, dass moderne KI-Systeme wie ChatGPT oder autonome Fahrzeuge „denkende Maschinen“ sind.Tatsächlich sind die meisten KI-Modelle nichts weiter als extrem fortgeschrittene Statistik. Sie erkennen Muster in Daten, aber sie haben kein echtes Bewusstsein oder Verständnis wie ein Mensch.
Allerdings kann es so wirken, als ob KI „denkt“, weil sie immer besser darin wird, Sprache zu verarbeiten, Emotionen zu imitieren oder logische Zusammenhänge herzustellen. Besonders bei Chatbots wie ChatGPT entsteht der Eindruck, dass eine Art Intelligenz dahintersteckt. Die grundlegende Funktionsweise basiert auf komplexen Wahrscheinlichkeitsrechnungen und statistischen Mustern, die aus riesigen Textmengen gelernt wurden. Allerdings sind die internen Prozesse moderner Sprachmodelle so komplex und hochdimensional, dass die genaue Herkunft spezifischer Antworten oft nicht mehr eindeutig zurückverfolgt werden kann. Die Modelle entwickeln emergente Fähigkeiten, die über einfache Wort-für-Wort-Vorhersagen hinausgehen und deren Entstehung selbst für Experten nicht vollständig transparent ist.
Ein klassisches Problem früherer KI-Systeme war das sogenannte ‚Papageien-Problem‘: KIs konnten Informationen überzeugend wiedergeben, ohne ein ‚Verständnis‘ des Inhalts zu haben. Dies führte dazu, dass sie sowohl Fakten als auch Unwahrheiten gleichermaßen überzeugend präsentieren konnten. Neuere Entwicklungen haben jedoch bedeutende Fortschritte in diesem Bereich gebracht. Moderne Sprachmodelle verwenden inzwischen verschiedene Techniken, um die Zuverlässigkeit zu verbessern:
- RLHF (Reinforcement Learning from Human Feedback): Modelle werden darin trainiert, hilfreichere, wahrhaftigere und sicherere Antworten zu bevorzugen.
- Chain-of-Thought-Prompting und Reasoning-Modelle: Diese Ansätze führen eine Art ‚internes Nachdenken‘ ein, bevor eine endgültige Antwort generiert wird.
- Tool-Integration: Manche KI-Systeme können externe Wissensquellen abfragen, um Fakten zu überprüfen.
- Unsicherheitsmarkierung: Fortschrittliche Modelle können ihre eigene Unsicherheit signalisieren.
Obwohl das Grundproblem nicht vollständig gelöst ist, wäre es ungenau, moderne KI-Systeme mit einfachen ‚Papageien‘ gleichzusetzen. Die Fähigkeit zur kritischen Prüfung bleibt jedoch eine aktive Forschungsrichtung in der KI-Entwicklung.
Laut einer Studie von OpenAI basiert GPT-4 auf einem Modell mit 1,76 Billionen Parametern und wurde mit Datenmengen in Petabyte-Größe trainiert (Die amerikanische Library of Congress, die größte Bibliothek der Welt, hat etwa 20 Terabyte an digitalisierten Büchern. Ein Petabyte entspricht 50-mal dieser Sammlung!) Dennoch bleibt es eine Wahrscheinlichkeitsmaschine ohne Bewusstsein.
Mythos 3: KI entwickelt sich exponentiell und wird bald alles beherrschen
In den 1960er-Jahren schienen schnelle Fortschritte möglich. Programme wie ELIZA – ein simpler Chatbot – sorgten für Begeisterung. Doch in den 1980er- und 1990er-Jahren stagnierte die Forschung. Rechenleistung und Daten fehlten, Finanzierungen brachen weg. Viele hielten KI für eine Sackgasse.
Der Durchbruch kam mit drei Entwicklungen:
- Leistungsfähigere Computer: Dank Moore’s Gesetz verdoppelte sich die Rechenleistung regelmäßig. Moderne KI-Modelle benötigen jedoch exponentiell steigende Ressourcen: GPT-4 erfordert etwa 10-mal mehr Rechenleistung als GPT-3.
- Big Data: Das Internet und soziale Medien erzeugten gigantische Datenmengen – die Basis für moderne KI. Mehr Datenpunkte bedeuten genauere Modelle: KI kann aus mehr Beispielen lernen und dadurch präzisere Vorhersagen treffen.
- Neuronale Netze und Deep Learning: Neuronale Netze sind Computer-Modelle, die das menschliche Gehirn nachahmen, indem sie Informationen in Schichten von „künstlichen Neuronen“ verarbeiten und aus Daten lernen. Deep Learning ist eine spezielle Art von neuronalen Netzen mit vielen Schichten, die besonders gut komplexe Muster in großen Datenmengen erkennen kann – z. B. für Bild- und Spracherkennung
Allerdings: Trotz dieser Fortschritte bleibt KI spezialisiertes Werkzeug. Ein Schachprogramm kann kein Auto fahren. Ein KI-gestützter Bildgenerator versteht keine Kunst. Der exponentielle Fortschritt findet nur in bestimmten Bereichen statt – dort, wo große Datenmengen und spezifische Muster genutzt werden können. Eine allgemeine KI („AGI“), die flexibel verschiedene Aufgaben lösen kann, ist noch reine Zukunftsmusik. Firmen, die ihr baldiges Kommen voraussagen, scheinen eher die eigene Relevanz unterstreichen zu wollen als wissenschaftlich fundierte Aussagen zu machen.
Mythos 4: KI ersetzt bald menschliche Arbeitskräfte komplett
Automatisierung beeinflusst den Arbeitsmarkt, doch KI ersetzt Menschen nicht vollständig. Viele Aufgaben erfordern emotionale Intelligenz, kreative Problemlösung und soziale Interaktion – Dinge, die Maschinen schwerfallen. Laut einer aktuellen McKinsey-Studie könnten bis 2030 etwa 375 Millionen Arbeitsplätze durch Automatisierung verändert werden, doch gleichzeitig entstehen neue Berufsfelder. Beispielsweise ist die Nachfrage nach KI-Spezialist*innen seit 2016 um 74 % gestiegen.
Einige Berufe werden sich wandeln, neue entstehen. In der Medizin analysiert KI Röntgenbilder, doch Ärzt*innen entscheiden. In der Industrie automatisiert KI Prozesse, doch Menschen überwachen sie. Die Zukunft liegt eher in der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine.
Ethische Herausforderungen und Chancen
Die rasante Entwicklung der KI bringt jedoch auch ethische Fragen mit sich:
- Wer haftet, wenn eine KI-Fehler macht?
- Wie verhindern wir Diskriminierung durch Verzerrung (Bias) in den Daten?
- Welche Auswirkungen hat KI auf Datenschutz und Energieverbrauch?
Der Energieverbrauch moderner KI-Modelle ist enorm: Das Training von GPT-3 erzeugte geschätzte 552 Tonnen CO₂ – vergleichbar mit 120 Flügen von New York nach London. Um solche Herausforderungen zu bewältigen, gibt es Initiativen wie den EU AI Act, der den ethischen Einsatz von KI regeln soll (hier mehr dazu). Gleichzeitig eröffnen sich neue Möglichkeiten: KI hilft, Krankheiten früher zu erkennen, Wetterprognosen zu verbessern und komplexe industrielle Prozesse effizienter zu gestalten.
Fazit: KI ist ein Werkzeug, kein Wundermittel
Der genaue Blick auf die Entwicklung von KI zeigt: Trotz beeindruckender Fortschritte basieren viele moderne Systeme auf Prinzipien, die bereits in den 1950er Jahren entwickelt wurden. Die wichtigsten Fortschritte beruhen auf leistungsfähigerer Hardware, großen Datenmengen und verbesserten Algorithmen.
Wird KI irgendwann wirklich menschenähnlich sein? Oder zeigt sich, dass menschliches Denken nicht einfach nachbildbar ist? Schon allein, weil das menschliche Denken und der Begriff „Intelligenz“ noch nicht intersubjektiv beschrieben sind? Das bleibt offen. Doch eines steht fest: Solange wir KI mit klarem Blick betrachten – nicht als allmächtige Intelligenz, sondern als Werkzeug mit Stärken und Schwächen – könnten wir sie verantwortungsvoll nutzen und sinnvoll in unsere Gesellschaft integrieren.